Mitten am Rand
Die Ausstellung «Nischen» in St. Jacobi zeigt Schlafplätze von Obdachlosen. Torsten M. kennt die Orte, er war lange wohnungslos.
Ich finde, das sind kluge Bilder. Obdachlosigkeit ist ein bekanntes Phänomen, trotzdem gehen 90 Prozent der Leute vorbei, ohne darüber nachzudenken. Für sie gehören die Obdachlosen zum Stadtbild. Die Menschen im Schlafsack werden rausgefiltert. Diese Fotos haben genau die richtige Distanz. Die Gebäude sind der erste Eindruck, erst danach kommt der Mensch, er dort liegt. Wer nicht genau hinschaut, sieht es kaum. Wie im normalen Leben. Dann denkt man: Mensch, eigentlich ist das ja schön und traurig zugleich. Auf manchen Bildern erkennt man viel Elend, andere zeigen, dass eben auch ein Stück Romantik möglich ist. Auch in der Obdachlosigkeit gibt es schöne Momente, wo man im Freien wach wird, die Sonne scheint, und Vögel zwitschern. Das Bild vom Platz am Jungfernstieg ist für mich gleichzeitig, Morgengrauen und Morgenrot. Das Morgenrot ist angenehm, schön. Gleichzeitig kann es sein, dass der Mensch dort total verkatert ist, weil er zum Einschlafen zu viel getrunken hat. Nachts und morgens ist es an der Stelle ruhig, der Jungfernstieg ist von 23Uhr an tot, fast kein Verkehr, kaum Fußgänger. Es ist kein Dauerplatz, da marschieren viele Touristen lang, am Tag würde der geräumt werden. Im Winter ist er gar nicht geeignet, kein Schutz vor Wind und Wetter. Wenn du an solchen Wasserflächen schläfst, ist die Luftfeuchtigkeit sehr hoch. Bei null Grad beißt die Kälte in den Fingern. Dann willst du nicht aufstehen, du weißt: Egal, was du machst, es wird noch schlechter. Zum Einschlafen trinken viele deshalb Alkohol. An keinem der fotografierten Orte habe ich je gelegen – ich habe mich selten in der Innenstadt einquartiert. Ich brauchte einen Rest Privatsphäre, einen überdachten Ort. Ich habe immer einen Zelten liegen lassen, auf dem stand, dass ich den Ort sofort wieder verlasse, wenn ich nicht geduldet werden. So wohnte ich ein Jahr lang in einer Villa im Harvestehuder Weg, die abgerissen werden sollte. Mietfrei in der teuersten Straße Hamburgs. An anderen Stellen, die die Ausstellung zeigt, darfst du eigentlich gar nicht liegen bleiben. Das Foto mit dem Platz zwischen Spitaler- und Mönckebergstraße zeigt das Gebäude, in dem die HSH Nordbank und Vattenfall sitzen. Jeden Tag kommen da Sicherheitsdienst, Reinigungsdienst und Polizisten vorbei. Sobald du zwei Meter an dem Gebäude dran bist, hältst du dich quasi auf dem Grundstück auf. Der Mann, den man auf dem Foto an diesem Platz in seinem Schlafsack sieht, durfte bestimmt nicht lange bleiben.Der Platz vor dem Notausgang von Saturn, der hier auch zu sehen ist, ist hell, laut und kalt. Ob der, der da liegt, tot ist oder schläft, kontrolliert keiner. Viele Passanten haben erst mal Angst: Was kann ich überhaupt tun? Wie komme ich mit dem ins Gespräch? Wenn ich jemanden sehe, der alkoholisiert irgendwo liege, dann gucke ich nach, ob seine Atmung noch normal ist. Dann kannst du im Zweifel nur noch den Notruf betätigen. Wenn ich sehe, der ist nur stark betrunken, dann ist mir das egal. Sicher ist er krank, aber ich habe zu viele eigene Probleme. Würde ich mir alle Probleme der Stadt zu eigen machen, würde ich durchdrehen. Der Platz am Saturn ist so öffentlich, solche Plätze sind eigentlich nur mit Alkohol zu ertragen. Aber wenn du zu viel trinkst und fast besinnungslos bist, wachst du nicht wieder auf. Bei null Grad auf der Parkbank kannst du erfrieren. Schnee hingegen ist gut, er dämpft Geräusche und bindet die Luftfeuchtigkeit. Dann ist es angenehmer draußen zu schlafen, als bei null Grad.Wenn ich diese Fotos sehe, geht mir der Liedtext von Klaus Lage durch den Kopf: «Monopoly, wir sind nur die Randfiguren in einem schlechten Spiel.« Dieses Gefühl, du bist ganz nah dran, aber du bist nicht dabei, das zeigen diese Bilder gut.
Aufgezeichnet von Sarah Levy
Nischen. Betrachtungen zur Obdachlosigkeit in Hamburg. Fotos von Uli M. Fischer.
30. November 2014 bis 6. Januar 2015, Hauptikriche Sankt Jacobi, Eintritt frei.
Aus Die Zeit No. 49/ 27. November 2014